Rainer Lather: BGE, Verwaltungsbeamte und die Hölle im Paradies

Liebe Teilnehmende, mit großem Interesse und zeitweise auch aufgebracht habe ich die spannende Auseinandersetzung zum BGE aus der Ferne verfolgt und wieder einmal zutiefst bedauert, an den Treffen und Auseinandersetzungen nicht direkt teilnehmen zu können. Wolfgangs Begründung seiner Ablehnung des BGE („Die Blaumeisen verlassen das Nest“) ist diesmal der Anlass, einen Beitrag zu schreiben.

Ohne jeden Zweifel ist der Mensch ein soziales Wesen. Das heißt, daß Leben und Überleben ohne andere Menschen nicht möglich ist. Die Illusion, es gäbe einen Zustand der „Selbstständigkeit“, ist ein Resultat unserer Zivilisationsgeschichte, die vor allem durch die Entwicklung eines linearen Denkens und der daraus folgende Individualisierung des Gemeinschaftswesens Mensch geprägt ist, mit allen bösartigen Folgeerscheinungen, die der weltumspannende Kapitalismus und die damit einhergehende materielle Verelendung auf der einen und die psychische Verelendung auf der anderen Seite mit sich bringen. Wir sind hoffnungslos individualisierte Menschen und halten diesen Zustand für die „natürliche“ Konstitution schlechthin. Wir gehen davon aus, dass alle Menschen, mehr oder weniger, genau wie wir selbst, auf sich bezogene Lebensbesitzer sind, die „ihr“ Leben möglichst frei gestalten wollen. Das ist nicht der Fall. Ich habe in Papua-Neuguinea Menschen kennengelernt, die ganz offenbar Teile einer Gemeinschaft waren und zwar nicht im aufklärerischen Sinne, also als „einsichtige und eines Besseren Belehrte“, sondern als menschliche Teile einer Gemeinschaft, die nicht über ein „eigenes“ Leben verfügten, sondern ganz offenbar von der im ersten Satz erwähnten menschlichen Konstitution nicht getrennte, nicht „herausindividualisierte“ Teilnehmer eines Lebens waren, das selbstverständlich nur als Ganzes erhalten bzw. gegen äußere Feinde wie zum Beispiel „Mutter Natur“ verteidigt und erhalten werden kann. Für individualisierte Menschen wie uns wäre die Teilnahme am Leben in einer solchen Gemeinschaft kein Paradies, sondern die Hölle, weil wir buchstäblich „unser eigenes“ Leben und was immer wir auch unter einer daraus resultierenden Freiheit verstehen, verlieren würden. Wer Teilnehmer am Leben ist, ist diesem Leben verpflichtet, das heißt, er wird in erster Linie darauf achten, dass Teilnahme am Leben möglich bleibt. Menschen ist das nur in der menschlichen Gemeinschaft möglich. Das hat nicht mehr viel zu tun mit unserer Vorstellung von individueller Freiheit, wie sie Wolfgang unter anderem mit dem Satz beschreibt, „Der Sinn meines Daseins in der Welt ist, aus eigener Kraft mein Leben zu leben – mit der Unterstützung und Hilfe der Anderen“. (Wer sind eigentlich diese „Anderen“?)
Wir, das heißt , die Menschen der „westlichen Zivilisation“ haben nicht das Nest verlassen, sondern die konstituierende menschliche Verfassung und zwar aus „eigener Kraft“.
Die „Gemeinschaft“ der individualisierten Menschen, die aus dieser Entwicklung hervorgegangen ist, bemerkt immer wieder die Unmöglichkeit, die verloren gegangene natürliche Konstitution durch Gesellschaftsordnungen zu ersetzen, die dem individualisierten Menschen aus seiner Misere helfen und „Gemeinschaft“ produzieren können. Wir wissen alle, dass selbst die erfolgreichsten Versuche, wie zum Beispiel die Nachkriegsdemokratien in Westeuropa und Amerika, ihr gemeinschaftsstiftendes Potenzial aus der hemmungslosen Befriedigung materieller Bedürfnisse bezogen und beziehen. Bedürfnisse, die in diesem Ausmaß nur befriedigt werden konnten und können, indem man die Ermordung anderer, durch hemmungslosen Ressourcenverbrauch und tödliche Arbeitsverhältnisse, billigend in Kauf nahm und nimmt. Der Kapitalismus ist nicht die „Ursache“ dieser Misere, sondern die zwangläufige und konsequente Folge der Individualisierung menschlichen Lebens. Die tödlichste, konsequenteste und in bösartigster Erscheinung auch beispielgebende Ausprägung einer Gemeinschaft der individualisierten Menschen war der deutsche Faschismus.
Anders gesagt: Im seinsorientierten Sinne sind wir als individualisierte Menschen schuldig und zwar im Sinne einer Erbschuld, das heißt, wir machen uns nicht schuldig, sondern wir sind es. Wir sind es, weil wir nur noch als Lebensbesitzer existieren können, nicht mehr als Lebensteilnehmer. Hieraus ergibt sich der Zustand der „Not“, weil ich nur verlieren kann, was ich besitze. Der individualisierte Mensch befürchtet zu Recht fortwährend „sein“ Leben zu verlieren, und ergibt sich der „Notwendigkeit“, sein Leben zu bewahren. Das ist aber nur möglich, und etwas anderes geschieht nicht, wenn man gegen das Leben selbst vorgeht. Ich sehe unsere Gesellschaften in genau diesem Zustand. Der Kapitalismus beschleunigt diese Entwicklung und fast überall sind wir nur noch von egozentrischen und manischen „Besitzern“ umgeben, also von uns selbst.
Wenn wir wissen, dass wir unserer Konstitution gemäß Lebensteilnehmer sind, uns aber nur noch als Lebensbesitzer begreifen, dann ist genau das die Misere des aufgeklärten Menschen, die noch einmal verstärkt wird, wenn der individualisierte Mensch den Versuch unternimmt, seine jetzt egozentrische Konstitution in eine ihn selbst beruhigende Moral zu kleiden. Die Entwicklung der „Grünen“ von ihren Anfängen Ende der siebziger Jahre bis heute ist diesbezüglich das Lehrstück meiner Lebenszeit. Von der klaren und unumgänglichen Einsicht, dass selbstverständlich nur der Verzicht auf ein materielles Mehr aus dem mörderischen und selbstzerstörenden Verlauf einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung herausführt bis zu den Öko-SUVs fahrenden Alleinbewohnern ökologisch einwandfreier 120 Quadratmeter großer Niedrigenergiewohnungen, die Ministerpräsident Kretschmanns grüner Alterseinsicht heute zustimmen und Verzicht irgendwie nicht gut finden (für die Wirtschaft und außerdem macht’s auch keinen Spaß), brauchte es keine dreißig Jahre. Dieser aufgeklärte Niedergang lässt sich nur erklären, wenn man zugesteht, dass wir nicht in der Lage waren und sind, den materiellen Kompensationsangeboten eine immaterielle Alternative entgegenzustellen und im Modus des vollkommen individualisierten menschlichen Daseins halte ich das für nicht möglich. Jeder bisherige gesellschaftspolitische Versuch, diese maligne Individualisierung durch gesellschaftliche Systeme zu „zivilisieren“, indem man in aufklärerischer Weise an die „Verantwortung“ des Individuums appelliert, gleichzeitig die natürliche Gegebenheit der absoluten Abhängigkeit des Menschen vom Menschen durch eine Idee von „Freiheit“ ersetzt, die diese absolute Abhängigkeit zur verhandelbaren Masse unter Individuen macht, woraus die einen dann etwas freier und die anderen etwas unfreier hervorgehen, endete bisher immer in einer blutigen Katastrophe. Deutscher Faschismus und russischer und chinesischer Kommunismus waren in ihrer linearen und „aufgeklärten“ Durchsetzung eines Modells der Gemeinschaft individualisierter Menschen die mörderischsten Systeme, und ich misstraue zutiefst jedem neuen Versuch, eine menschliche Gemeinschaft herzustellen, der sich einerseits auf Befreiung des Individuums und andererseits auf „Verantwortung“ für das „Gemeinwesen“ beruft. (Nebenbei bemerkt: Noch heute üben die „guten Ansätze“ des Faschismus bei der rechtsorientierten und „die guten Ansätze“ des Kommunismus russischer und chinesischer Prägung auf die linksorientierte aufgeklärte bildungsbürgerlichen Mittel- und Oberschicht eine gewisse Faszination aus. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt und der ehemalige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, Deng Xiao Ping, waren beide unverhohlene Bewunderer der straff organisierten kapitalistischen Diktatur Singapurs.)
Ideologisch scheinbar völlig entgegengesetzte Systeme beriefen sich immer auf die gleichen moralischen Konstrukte: „Befreiung von…“ und „Verantwortung für…“
Die gesellschaftlichen Versuche, ein Gemeinwesen für den individualisierten Menschen zu konstruieren und zu implementieren, berufen sich letztlich auf die Aufklärung und halten das Scheitern dieser Versuche für einen Mangel an Aufklärung, so, als ob unsere Misere ein kognitives Problem, also ein Mangel an Einsicht, an Aufmerksamkeit, an Wissen wäre. Wenn das tatsächlich so wäre, dann müsste es gerade in der sogenannten gebildeten Mittelschicht zumindest viele Oasen gut funktionierender Teilgemeinschaften geben. Das Gegenteil ist aber der Fall. Zunehmend zerfallende familiäre oder auch nur partnerschaftliche Verhältnisse insbesondere in dieser Gesellschaftsschicht sprechen eher dafür, dass Aufklärung hier nicht zu Lösungsansätzen geführt hat, sondern im Gegenteil: einer so nie dagewesenen Heranbildung egozentrischer Freiheitsbesitzer.
Neuanfänge, die darauf bauen, mit klassisch aufklärerischer Überzeugungsarbeit Menschen von der Verantwortung für ein gemeinschaftliches Leben zu überzeugen, richten sich immer an die „Anderen“. Die behandlungs- und therapiebedürftige Klientel sind aber nicht die „Anderen“, sondern wir selbst. Die Aufklärung hat das Problem der Entfremdung von uns selbst weder vermindert noch eliminiert, sondern in der beschriebenen Form auf die Spitze getrieben. Insofern scheinen mir ihre Mittel, insbesondere aber ihre moralischen Konstrukte nicht nur nicht geeignet, aus der tödlichen Sackgasse herauszufinden, sondern Verstärker, wenn nicht sogar Ursache für so manche bösartige Entwicklung zu sein.
Menschliche Gemeinschaften Papua-Neuguineas habe ich Mitte der achtziger Jahre noch als Gemeinschaften nichtindividualisierter Menschen kennengelernt, allerdings mit rasant fortschreitenden Auflösungserscheinungen, wie sie die neokoloniale Einführung kapitalistischer Ressourcenwirtschaft durch „befreundete“ Nationen mit sich bringt.
Das Leben der Menschen dieser Gemeinschaften war geprägt durch lebenserhaltendes Machen, an dem alle beteiligt waren. Es gab keine Waisenkinder, weil alle Kinder Kinder dieser Gemeinschaft waren. Schon die Jüngsten konnten die noch Jüngeren beaufsichtigen, lehren, pflegen, ohne dass ihnen das explizit beigebracht worden wäre. Das Gleiche galt für alle anfallenden Arbeiten. Kinder wuchsen durch das gemeinschaftliche Machen in die Gemeinschaft hinein, und die Tatsache, dass Leben und Überleben nur in der Gemeinschaft möglich ist, stellte sich nicht gesondert dar, weil das Leben selbst nur als gemeinschaftliches Leben erfahren werden konnte und wurde. Jeglicher individuelle Ausbruch aus dieser Gemeinschaft kam einem Selbstmord gleich und der Ausstoß einem Todesurteil. Und so war es auch. Für uns ist das eine wenig attraktive Vorstellung und ich bin davon überzeugt, dass wir uns hierher nicht mehr „zurückentwickeln“ können. Was bleibt, ist für mich die Feststellung, dass der individualisierte Mensch der westlichen Zivilisation kein Grundmuster der menschlichen Konstitution ist, sondern eine zivilisatorische Fehlentwicklung, die zunehmend damit beschäftigt ist, sich selbst zu eliminieren. Wenn ich das als ursächliche Krise verstehe und akzeptiere, suche ich nicht mehr nach „Lösungen“ im klassischen Sinn der Aufklärung, sondern schlicht und einfach nach Handlungsmöglichkeiten, die mich in Lebensgemeinschaft versetzen und das ist bei allem profitorientierten und ideologischen Missbrauch ein mittelschweres Kunststück und mir selbst eher selten möglich.
Seit knapp vierzig Jahren „verdiene“ ich das Geld für meinen „Lebensunterhalt“ als Schreiner, Techniker und Lehrer und ich bin fest davon überzeugt, dass mich nur meine seit früher Jugend intensiv betriebene Malerei, die den monetären Lebensunterhalt eher behindert als erleichtert hat, davor bewahrt hat, von den materiellen Kompensationsangeboten auf der einen Seite und den symptomlindernden Produkten der Therapieindustrie auf der anderen Seite vereinnahmt zu werden. Und wenn ich so etwas wie dem Leben selbst zugewandte menschliche Gemeinschaft jenseits gemeinschaftlicher Verfolgung ökonomischer Interessen erfahren habe, dann meist im Zusammenhang mit einem ökonomisch sinnlosen Arbeiten und Machen, wie es zum Beispiel das Schreiben dieses Textes ist.
Angesichts der Tatsache, dass ich das Geld für meinen Lebensunterhalt, so wie die meisten Menschen hier, in völliger Abhängigkeit von größtenteils bösartigen Arbeitsgemeinschaften individualisierter Menschen „verdient“ habe, bin ich nie auf die vollkommen irrsinnige Idee gekommen, „auf eigenen Beinen“ zu stehen. Der traumwandlerischen Illusion, ich könnte „mein“ Leben selbst unterhalten, bin ich noch nicht einmal während einer zehnjährigen beruflichen „Selbstständigkeit“, die doch nur eine verschärfte, weil noch unsicherere Form lohnabhängiger Arbeit war, auf den Leim gegangen.
Was also bedeutet dieses auf „eigenen Beinen stehen“ oder „aus eigener Kraft zu leben“ und warum taucht diese Forderung in gesellschaftspolitischen Diskussionen immer dann massiv auf, wenn es darum geht, die gröbsten und brutalsten Auswüchse kapitalistischer Menschenverachtung wenigstens zu korrigieren? Was bedeutet diese Forderung angesichts der Tatsache, dass 10 Prozent einer Gemeinschaft über 70 Prozent ihrer materiellen Möglichkeiten verfügen? Wer steht hier auf fremden Beinen und wer lebt hier aus der Kraft anderer?
Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ist keine bedingungslose Gabe, sondern zunächst einmal eine unbedingt notwendige Rückgabe. Zurückgegeben wird die Chance auf ein würdeerhaltendes Leben für die große Mehrheit der Bevölkerung. Und ich meine sehr wohl, dass diese Maßnahme eine der vielversprechendsten Initiativen der letzten Jahrzehnte darstellt, mit durchaus umwälzendem Potenzial. Dieses Potenzial sehe ich, weil die Einführung des BGE die bösartigsten und repressivsten Institutionen schlagartig eliminieren würde. Diese Institutionen sind die Arbeits(losen)verwaltung, die Verwaltung sogenannter Hartz-IV-Empfänger und die Verwaltung sogenannter Sozialhilfeempfänger. Die Mitarbeiter dieser Verwaltungen wären augenblicklich „arbeitslos“ und die daraus wahrscheinlich resultierende Sinnkrise dieser Verwaltungsfachangestellten, die erkennen müssten, dass sie ihre eigene Würde und die Illusion, auf eigenen Beinen zu stehen, nur mit der verwaltungstechnisch korrekten Verkrüppelung der Würde anderer Menschen aufrechterhalten konnten. Hunderttausende sind mit dieser vollkommen sinnlosen und in vielen Auswüchsen auch schon verbrecherischen Prekariatsverwaltung „beschäftigt“ und „verdienen“ hier „aus eigener Kraft“ ihren „Lebensunterhalt“.
Beispiele: Vor ca. acht Jahren bewarb ich mich, von Arbeitslosigkeit bedroht, bei einem Bildungsträger der beruflichen Bildung. Angebot: Ich sollte in Kooperation mit einem heimischen Industriebetrieb und der „Agentur“ arbeitslose Industriearbeiter zu einem Kurs zum Erwerb eines Gabelstaplerführerscheins überreden. Repression bei ablehnender Haltung: Kürzung der Bezüge. Die Stelle war befristet, keine Chance auf Festanstellung bei dem Bildungsträger. Mit anderen Worten: Nach einem Jahr hätte ich mich arbeitslos melden können, mit guten Chancen von meinem Nachfolger zu einem Gabelstaplerführerscheinkurs überredet zu werden.
Nach Einführung von Hartz IV bzw. ALG II wurde in Marburg (wie vielerorts) ein Jobcenter gegründet. Zunächst hieß es, dass Mitarbeiter des Sozialamts und der Arbeitsagentur in dieser neuen Behörde arbeiten würden. Tatsächlich aber wurden knapp hundert neue Sachbearbeiter geschult und eingestellt. Ein Großteil dieser neuen „Sachbearbeiter“ waren Sozialarbeiter, die durch die Streichung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Schließung zahlreicher Projekte, die sich daraus finanzierten, selbst arbeitslos geworden waren. Die rot-grüne Stadtregierung wusste ihre Klientel ganz im Sinne der damaligen rot-grünen Bundesregierung vor den Auswüchsen ihrer eigenen asozialen und nachhaltig zerstörerischen Sozialpolitik zu schützen.
Dass diese ganz gut verdienenden und gut ausgebildeten Verwaltungsfachleute nicht unbedingt für ein BGE und eine nachhaltige Sinnkrise zu haben sind, kann man irgendwie noch verstehen.
Was ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht verstehe, ist das Argument der BGE- Ablehner, das BGE würde die Menschen noch unfreier machen. Ich kann hier nur erkennen, dass das BGE nicht nur eine Sinn-, sondern auch eine Glaubenskrise auslöst. Unfrei kann ich durch diese „Gabe“ nicht werden, die doch nichts anderes ist als eine vernünftigere und würdeerhaltende Umverteilung von Geldmitteln zum eigenverantwortlichen Gebrauch der Bürger. Wenn ich der Meinung bin, dass es sich bei dieser Umverteilung um eine meine Freiheit und damit auch Würde beschneidende Maßnahme handelt (was ich nicht zu erkennen vermag), dann kann ich sie doch immer noch ablehnen und mich weiterhin der Illusion hingeben, mein Leben aus eigener Kraft zu leben. Solange jedenfalls, bis ich die bedingungslose Grundhilfe „Anderer“ in Anspruch nehmen muss, weil ich mir den Arsch nicht mehr selbst auswischen kann. In diesem Zusammenhang wüsste ich auch gerne, wie ein würdevolles Leben der Menschen aussehen kann, die aufgrund einer Behinderung von der Geburt bis zu ihrem Tod auf die Hilfe der Mitmenschen angewiesen sind, wenn es zum Erhalt meiner Würde und meiner Freiheit gehört, auf diese Hilfe nicht angewiesen zu sein? Beendet die Pflegebedürftigkeit meine Freiheit oder nur eine Illusion?
Das BGE bietet meiner Meinung nach zum ersten Mal die Chance, aus malignen sozialpolitischen Wiederholungen herauszufinden, und zwar nicht durch ein neues System, das auf die bevormundende, repressive und kurative Belehrung des Menschen abzielt, sondern den Menschen seinem unausrottbaren Bedürfnis nach gutartiger menschlicher Gemeinschaft und Zusammenarbeit überlässt. Ein Beispiel dafür ist das AutS.
Das ist eine Chance, die natürlich auch die Möglichkeit des Scheiterns beinhaltet. Allerdings eine Chance auf „vorapokalyptischen“ Neuanfang. Das BGE erst einzuführen, wenn die Menschen die „Reife“ für den „geschäftslosen Gabentausch“ erlangt haben, kommt mir vor wie die Forderung, einem Gehbehinderten erst dann einen Rollstuhl zur Verfügung zu stellen, wenn er vorher tanzen gelernt hat. Jeder gehbehinderte Mensch wird dann verstehen, dass nicht er für einen Neuanfang vorgesehen ist, sondern der nach ihm kommende, nicht mehr gehbehinderte Mensch. Wann soll der auftauchen? Den kann man sich doch nur postapokalyptisch vorstellen, also ohne uns.
Zum Schluss noch einige Anmerkungen zu den BGE-Versuchsanordnungen bzw. Negativbeispielen. Wenn ich eine kleine Gruppe in einem größeren gesellschaftlichen Gebilde zeitlich begrenzt von den unangenehmen Auswirkungen der Entwicklung dieser Gesellschaft befreie, dann werden die Menschen dieser Versuchsgruppe je nach Neigung diesen „Lottogewinn“ entweder versaufen, oder den materiellen Zugewinn dafür nutzen, ihre Position innerhalb dieser Gesellschaft nach Ablauf des Versuchs zu verbessern. Das ist alles. Keiner wird so blöd sein, die gesamtgesellschaftliche Realität aus den Augen zu verlieren. Man beurlaubt sich oder versucht sich besser aufzustellen für die Zeit danach. Positive gesellschaftliche Veränderungen durch die Einführung des BGE werden langfristig nur dann zum Tragen kommen, wenn das BGE gesamtgesellschaftlich und unbefristet eingeführt wird. Ein befristeter Feldversuch mit einer kleinen Gruppe ist unmöglich.
Die Nauruer werden immer wieder als Negativbeispiel für die „Folgen“ der Einführung eines BGE erwähnt. BGE = Verfettung und Diabetes. Von den kulturellen Unterschieden und einer daraus resultierenden differenzierten Betrachtung der Verhältnisse auf Nauru einmal abgesehen, kann man, ganz von außen betrachtet, erst einmal Folgendes festhalten:
Nauru verfügte über einen Rohstoff, der weltweit nachgefragt, in Nauru allerdings nicht oder nur in vergleichsweise geringen Mengen gebraucht wurde. Die Nauruer waren eine ähnliche Gesellschaft wie die oben beschriebenen Gesellschaften Neuguineas. Begehrlichkeiten anderer Nationen nach Phosphat versetzten den kleinen Staat in die Lage, sehr viel Geld einzunehmen. Einem traditionellen Prinzip ihrer sozialen Gemeinschaft folgend, verteilten sie den Gewinn unter der Bevölkerung. Es war so viel, dass sich jeder Einwohner fettfressen und seine Langeweile mit den Entertainmentprodukten aus Amerika, Europa und Asien vertreiben konnte. Jetzt gibt es kein Phosphat mehr, das Schlaraffenland ist geschlossen, die Bevölkerung krank, die traditionelle Kultur zerstört.
Alternativszenario 1: Ein nauruischer Donald Trump hat die Zeichen seiner Zeit erkannt, lässt sich mit dem Versprechen der Teilnahme seiner Landsleute am westlichen Way of Life mit all seinen wunderbaren Konsumgütern zum Präsidenten wählen, baut eine ihm ergebene Polizeitruppe auf, schickt seine Landsleute in den Phosphatabbau, lässt sie aus eigener Kraft und auf ihren eigenen Beinen stehend hart arbeiten, steckt den Gewinn ein und lebt wie Bokassa und Idi Amin. Resultat: Es gibt jetzt kein Phosphat mehr, das Schlaraffenland war die Hölle, die Bevölkerung ist krank, der Präsident schafft mit entsprechender Expertenunterstützung auch noch einen Großteil der anlaufenden Entwicklungshilfe auf ein Schweizer Konto, die Polizeitruppe wird nach wie vor gut bezahlt, die Hölle bleibt geöffnet.
Alternativszenario 2: Das Volk der Nauruer ist das klügste der Welt und verweigert den Abbau von Phosphat, weil es BGE-ablehnende Expertisen aus Deutschland und der Schweiz gelesen hat und erkennt, dass dieser Schritt ihre Kultur und ihre Gemeinschaft zerstören wird und sie all fett, krank und faul macht. Australien als lokale „Schutzmacht“ marschiert ein, schützt das nauruische Volk vor sozialistischen Umverteilungsexperimenten, installiert einen mitgebrachten Donald Trump, alles andere wie oben.
Ich möchte behaupten, dass die Nauruer seinerzeit die beste Entscheidung getroffen haben, die sie treffen konnten!
Viele Grüße, Rainer Lather