Nietzsches Gesellschaftsbild

Von Wolfgang Ratzel, 13. Juli 2017. — Liebe Vorbereitende, der Verlauf der Lektüre von F. Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“ nagt in mir. Zwar hat Nietzsche die Frage, warum das Böse in der Welt ist, beantwortet, aber dabei ein Gesellschaftsbild entworfen, das zum Himmel stinkt…

Es wäre wichtig zu untersuchen, inwieweit seine Vorstellungen von den „ritterlich-aristokratischen Werthurtheilen“ und der ritterlich-aristokratischen Raubthier-Lebensweise anschlussfähig ist an das, was „Imperiale Lebensweise“ genannt wird.

Auf jedenfalls ist für mich das, was Nietzsche als aristokratische Lebensweise zeichnet, der Inbegriff des Verabscheuungswürdigen und das Gegenteil dessen, für das ich einstehe:

nämlich für eine treuhänderische Lebensweise, die all die niedrigen und ohnmächtigen und von den „aristokratischen Raubthieren“ verletzten, und vergewaltigten Lebewesen in Obhut nimmt, und die eine Lebensweise der Ohnmacht begründen will, die auf der Fähigkeit des Menschen zum Mitleiden beruht …

Am meisten irritiert mich aber die kritiklose Hinnahme des Gesellschaftsbildes, das Nietzsche in die Welt setzt. Es ist zwar wichtig, zuerst zu verstehen, was Nietzsche sagen will. Aber warum kam am 6. Juli danach so gut wie kein Aufschrei!! Warum diese schweigende Hinnahme dieses Gesellschaftsbildes? Findet ihr es etwa „richtig“?

Anbei nun eine kleine Zusammenstellung: , um nachvollziehbar zu machen, warum ich Nietzsches Genealogie der Moral nicht nur ablehne:

Sie ekelt mich im tiefsten Grunde meines verhausthierten Herzens an.

Wolfgang

Eine Antwort auf „Nietzsches Gesellschaftsbild“

  1. Lieber Wolfgang, ich habe zwar nicht an der Veranstaltung teilgenommen, möchte aber dennoch auf deinen Beitrag reagieren. Dies vor allem, weil er so stark im den Gestus der Empörung und des Ekels verankert ist.
    Ich kann deine Argumente sehr gut nachvollziehen. Dennoch ist Nietzsche vielleicht besser zu verstehen, wenn die Hintergründe seines Denkens klarer sind.
    Er war ja selber ein körperlich schwacher Mensch, von Krankheiten aller Art und am Ende von Wahnsinn gezeichnet. Er hat sicher sehr stark empfunden, dass die ritterlichen Aristokraten ihn bedenkenlos ausgelöscht hätten, wäre er ihnen in die Quere geraten. Er selber ist einer jener moralisierenden Intellektuellen, die ihre körperliche Schwäche in argumentative und moralisch manipulierende Stärke gegen jene brutalen aristokratischen Raubtiere wenden, und zwar erfolgreich!
    Jan und ich waren ja in Sils Maria, und diese schroffe und gigantische Landschaft hat Nietzsches Denken geprägt. Nur ein körperlich gesunder und seinen Kräften ohne die „Störfelder“ moralischer Bedenken vertrauen könnender Mensch würde allein in diesen Gegenden überleben. Vielleicht hätte das nicht einmal ein Cesare Borgia geschafft, den er so verehrte.
    Ausgangspunkt seines Denkens ist sicher seine eigene körperliche Verwundbarkeit. Politik wird in archaischen Staaten von anderen Geschöpfen gemacht, jenen, die diese Verwundbarkeit nicht haben. Sie formen Reiche und üben Macht aus. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage, zumal die Erfindung dieser Kategorien ja gerade auf das Konto der Klasse der körperlich Schwachen, aber geistig Überlegenen geht. Was Nietzsche sagt ist, dass diese intellektuell-moralische Waffe viel stärker ist als die eines ursprünglichen Verhaltens jenseits von Moral! Sozusagen von hinten durch die kalte Küche (so empfindet es Nietzsche) hat die Moral einen Siegeszug angetreten und lenkt auf ihre Weise die Geschicke der modernen Gesellschaft. Was er der Moral vorwirft? Ihre List und Verschlagenheit, ihre Klugheit letztendlich. Denn diese Klugheit bringt die Adler zur Strecke, die keine Falschheit und kein Gewissen kennen, dafür aber das Potential haben, im Augenblick zu sein und ihn ohne Skrupel nach der Art ihrer Natur zu leben. Das ist eben auch eine Stärke, wenn auch nicht die, die die Moral aufs Treppchen hebt.
    Wer also ist der „bessere“ Kämpfer, die Moral und Klugheit oder die archaische Ursprünglichkeit?
    Ich möchte daran erinnern, dass der Lektürekurs ein philosophisches Seminar ist. Der anklagende Gestus, dass kein Aufschrei durch die Reihen ging, und die Teilnehmer nicht würgend der Lektüre folgten, erklärt alle außer dich zu Leuten, die sich jetzt schlecht fühlen müssen, die moralisch versagt haben! Genau das meint Nietzsche! Das ist die moralische Keule, die auf ganz spezielle Weise Macht ausübt. Insofern würde ich dafür plädieren, auf dem Teppich und sachlich zu bleiben. Nietzsches Gedanken sind Philosophie und es sollte doch die Gedankenfreiheit herrschen, sie einfach nur zu bedenken.
    Kirsten

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