Unser Platz im Imperium

Wenn die „imperiale Lebensweise“ etwas ist, was nicht sein soll, dann fragt sich: In welchem Verhältnis stehen wir selbst zu ihr? Ich denke an vier Möglichkeiten:

A) Erste Möglichkeit: Wir, die Günstlinge dieser Lebensweise, ebenso wie die, die sich eher auf der Verliererseite finden, sind moralische Neutren: nämlich wenn diese Welt eine Verkettung von Ursachen und Wirkungen ist, in der es keine Freiheit der Wahl gibt zwischen richtig und falsch, gut und böse, fair und unfair; sondern nur die kausalen Ereignisse, die sich den darüber reflektierenden Wesen irrtümlich als Schuld oder Verdienst darstellen mögen, jedoch besser beschrieben wären als Glück oder Pech.

B) Oder aber es gibt keine solche Neutralität, sondern: die imperiale Lebensform ist das „System-Böse“ (Begriff von Uta), und durch unser Verhältnis zu ihm entscheidet sich, was wir sind. Wir haben die Wahl, es zu affirmieren, uns in ihm einzurichten – oder es zu bekämpfen, zu fliehen oder – wenn für beides zu schwach – es wenigstens anzuklagen. Wir wären dann, wenn nicht Überwinder des Systems, dann doch wenigstens die, die den „systemüberwindenden Horizont“ sehen. Unsere Gegner oder Feinde sind dann die, welche die imperiale Lebensform ausdrücklich wollen und wissentlich „das System stabilisieren“. Egal in welche Worte wir den Dualismus ’systemkritisch vs. systemstabilisierend‘ kleiden: es handelt sich um eine moralische Unterscheidung, durch welche wir die einen (tendenziell uns) auf der richtigen, die anderen auf der falschen Seite verorten; wir sind dann vielleicht zu bescheiden, um zu sagen: ‚wir sind die Guten‘, nehmen uns aber doch als Fürsprecher der rechten und guten Ordnung wahr, die den Störern dieser Ordnung in den Arm fallen. Es ist ein moralisches Urteil, durch welches wir eine bestimmte Denkweise isolieren (z.B. den „Subjektivismus“) und zugunsten einer anderen Denkweise verwerfen.

C) Oder wir selbst sind diese imperiale Lebensweise, untrennbar mit ihr verbunden, Ausführende ihrer Gewalttätigkeit – aber nicht wie in (A) als Neutren, sondern als Träger und Seelen des Systems. Wir haben keinen Grund, es mehr zu verachten als uns selbst – denn wir sind Fleisch von seinem Fleisch, wir leben von ihm und erhalten es am Leben; wir können es nicht überwinden. Wir teilen ganz und gar seine Schlechtigkeit oder Bosheit und haben sie uns zuzurechnen. Das ist etwa die Position von Helene Druskowitz. Eine Ausflucht vor dieser gut begründeten Selbstverachtung ist der Antihumanismus, der von der persönlichen Schuld und der Unverdientheit des eigenen Glücks ablenkt, indem er mit dem Finger von sich weg auf „den Menschen“ zeigt. Dieses Hintertürchen gehört verschlossen: „Der Mensch“ mag ein Irrtum sein, aber das ändert nichts daran, dass wir schlecht, böse und erbärmlich sind – gleichgültig ob wir Menschen sind oder was auch immer.

D) erscheint ebenfalls als eine triste Ausflucht: ‚Wir sollten nicht so viel über das Böse nachdenken, sondern lieber über das Gute, das uns allen ursprünglich ist. Indem wir uns auf das Positive konzentrieren, brechen wir die Macht des Negativen, das doch eigentlich, wie schon der Name sagt, ein Negativum, also nichts ist, wesenlos, ein Abfall vom wesentlich Guten, das uns allen eignet. Warum sich noch mehr herunterziehen lassen; an dem, was passiert ist, lässt sich nichts mehr ändern, lasst uns also mit freudigen Gemüt in der Gegenwart leben und in die Zukunft schauen: Eine andere Welt ist möglich, und diese andere Welt wird ähnlich gut sein wie die ursprüngliche, oder noch besser. Zwischen diesem guten Ursprung und der guten Zukunft wird das schlimme Zwischenspiel samt imperialer Lebensweise als bloßer Schein des Bösen verschwinden.‘ – Solche Neo-Privationslehren (‚Das Böse ist eigentlich etwas Nichtiges‘) sind kaum mehr als ein besonderes Segment der imperialen Lebensweise – denn einen solchen Optimismus muss man sich leisten können. Wer aber bezahlt dafür?

Welches dieser Selbstverhältnisse zur imperialen Lebensweise kommt euch am nächsten? Oder kennt ihr noch andere? Könnt ihr sie kurz beschreiben? Und anschließend prüfen, ob sie nicht doch einer der genannten vier sehr nahe kommen?

Jan Köttner, 10. Juli 2017