Isa Mülders: „Die eingepreiste Menschenwürde“ – Zur Berechnung des Existenzminimums

Am Do, 28. Juli 2016, ging es um die Entscheidung des BVerG – Urteil vom 09.02.2010 und den Beschluss des BVerfGs vom 23.04.2014:

  1. Es bleibt, dass das BVerG die „blutleeren“ Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher gewalt“ und Artikel 20, Abs.1 GG („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer und demokratischer Bundesstaat“) mit Leben erfüllt hat.

Seit 2010 gibt es nämlich ein Grundrecht für die Armen auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das ihre physische Existenz sichern und ihnen ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen muss. Das erscheint mir bewahrens- und verteidigungswürdig zu sein.

  1. Die Menschenwürdegarantie fällt gemäß Art 79, 3 GG und damit unter das „Ewigkeitsregime“, d.h. sie darf nicht geändert werden.

Zwei Fragen bleiben:

  • Können die beiden Entscheidungen des BVerG durch das BVerG geändert oder gar aufgehoben werden?
  • Der Artikel 146 GG legt fest, dass das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Kann diese Verfassung unter dem Niveau des Grundgesetzes liegen, d.h.: ohne

Ewigkeitsklauseln und ohne Sozialstaats-Gewährleistung?

  1. Das BVERG hat die Untergrenze des Existenzminimums nicht mit einer Geldsumme bestimmt. Das BVERG hat lediglich das Verfahren bestimmt, nach dem die Untergrenze festgelegt werden muss.
  1. Die Begründung des BVerG lässt es nicht zu, Arbeitsverweigerern die Grundsicherung für Arbeitsuchende zu entziehen. Sie begründet de facto ein bedingungsloses Grundeinkommen.

[Kritik]

  1. Eben dieses für verfassungsgemäß erklärte Verfahren erscheint mir als ein Teufelskreislauf. Denn die Ausgaben werden differenziert nach einem Verfahren, das die Ausgabenspreizung des einkommenärmsten Quintils (= Fünftelwerts) der Gesamtbevölkerung zu Grunde legt. Das erklärt Bildungsausgaben von 1,54 Euro pro Monat. Gleichzeitig werden reale Ausgaben für Alkohol oder Tabakwaren bzw. Rauschmittel nicht eingepreist. Der Ausgabenbereich Nahrung umfasst nur alkoholfreie Getränke. Das Existenzminimum garantiert also nur eine typische Armutsexistenz – ohne Rauschmittel.
  1. Das BVERG ermöglicht es dem Gesetzgeber, das menschenwürdige Existenzminimum als reinen Geldbetrag zu bestimmen. Einkommensarme und vor allem deren Kinder brauchen aber zuvörderst eine breite kostenlose Infrastruktur aus Erziehungs-, Bildungs-, Ausbildungs-, Arbeitsvermittlungs-, Kultur- und Sporteinrichtungen, um Fähigkeiten zu erwerben und entfalten zu können.
  1. Das nunmehr verfassungsgemäße Verfahren zur Ermittlung der Höhe ergibt einen gerichtsfesten Betrag von derzeit monatlich 404 Euro für Erwachsene.

Dazu kommen die gedeckelten Kosten der Unterkunft (nicht: Kosten der Wohnung!!!), zahlreiche Vergünstigungen und Sonderleistungen, eine normale Kranken- und Pflegeversicherung und dazu noch eine Anrechnungszeit ohne Bewertung in der Rentenversicherung.

Eine weitere Frage, die bleibt: Gehören diese zusätzlichen Leistungen ebenfalls zum geschützten Existenzminimum?

  1. Meine Befürchtung: Das BVerG-Urteil erlaubt es dem Staat, sich durch Bezahlung von 404 Euro aus der weiteren Verantwortung für die Inklusion unserer „bildungsfernen“ und vom Arbeitsprozess „abgehängten“ MitbürgerXinnen samt ihrer Kinder zu entziehen.

Die sozialstaatliche Infrastruktur muss zum menschenwürdigen Existenzminimum gehören. Der Zugang zur sozialstaatlichen Infrastruktur muss als Grundrecht der Armen durch den Staat gewährleistet werden.

Hierüber muss das BVerG erneut befinden.