Helmut Beck: Die Brücke ins Reich des Bewusstseins

„Das Gehirn erzeugt das Bewusstsein“ – eine nicht akzeptable Aussage oder eine Tatsache? Was kann die Philosophie, was können die Neurowissenschaften zur Klärung beitragen?
Die Brücke ins Reich des Bewusstseins – Worte und Fakten

1. Worte

1872 hielt Emil Du Bois-Reymond vor der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig einen berühmt gewordenen Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens“. Darin setzte er sich mit dem noch heute heftig diskutierten Problem der „Erklärungslücke“ auseinander: Offensichtlich treffen im Gehirn Geist und Materie zusammen, wobei aber völlig unvorstellbar ist, welcher Zusammenhang zwischen physiologisch-physikalischen Vorgängen und Bewusstsein bestehen könnte. Er führte aus:
Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot. … Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem [d.h. einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen] Beisammensein Bewußtsein entstehen könne. …. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen. (Hervorhebung von mir)
Aus dieser Unmöglichkeit können grundsätzlich zwei Schlussfolgerungen gezogen werden: Man könnte folgern, dass Bewusstsein nicht durch cerebrale Aktivität („Interaktion materieller Teilchen“) entstehen kann, es muss also von woanders herkommen. Dem entspricht die traditionelle Auffassung von Geist und Bewusstsein als einer übernatürlichen Erscheinung aus einer „jenseitigen“, unfassbaren Welt. Du Bois-Reymond zog einen anderen Schluss: Das werden wir nie wissen – Ignorabimus!
Viele hoffen zwar, dass dieses Rätsel durch den wissenschaftlichen Fortschritt gelöst werden wird. Aber da liegt eine Verwechselung vor: Geklärt werden kann voraussichtlich, welche spezifischen Vorgänge, welche Mechanismen oder was auch immer die Entstehung von Bewusstsein zur Folge hat (die Wissenschaft präsentiert ja immer wieder Überraschungen). Aber dabei bleibt immer noch offen, wie durch diese Vorgänge eine Brücke ins Reich des Bewusstseins geschlagen werden kann. Es ist zu fürchten, dass der gesunde Menschenverstand für immer ratlos bleiben wird.
Es dürfte allerdings schon lange klar sein, dass die Welt nicht mit dem gesunden Menschenverstand zu begreifen ist. Mit Newton ist ein mit dem gesunden Menschenverstand in Einklang stehendes mechanistisches Weltbild zersprungen. Vor Newton gab es eine klare Vorstellung von Kausalität: ein Gegenstand fällt um, weil er gestoßen wird, etwas kommt nur dann in Bewegung, wenn es angeschoben wird. Newton entdeckte, dass Gravitation eine Fernwirkung (ohne direkten Kontakt) ist, dass z.B. der weit draußen am Himmel stehende Mond das Wasser in der Nordsee anziehen und im Hamburger Hafen eine Flutwelle erzeugen kann. Aber wie schafft er das? Eigentlich müsste man sagen: Ignorabimus. (Mancher wird zwar einwenden: was daran ist denn verwunderlich – es ist eine Auswirkung der Gravitation. Der, der so spricht, übersieht jedoch, dass etwas Unbegreifliches inzwischen selbstverständlich geworden ist. Der gesunde Menschenverstand bemerkt nicht, dass er mit metaphysischen Rätseln hantiert.)
Es ist geradezu Kennzeichen der Naturwissenschaft, dass sie kausale Zusammenhänge entdeckt hat, die mit dem gesunden Menschenverstand nicht nachvollziehbar sind. Kausalität ist nicht beschränkt auf anschauliche Vorgänge wie die Erzeugung von Speichel, Urin oder Spiegeleier durch Bratpfannen (mit oder ohne Einschusslöcher). So zu denken wäre ein Rückfall in scholastische Beweisverfahren, die sich sehr an Worten orientierten (und die Scholastiker konnten bekanntlich nachweisen, dass unendlich viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können).
Auch das Argument des Kategorienfehlers sticht nicht. Richtig ist, dass Gehirn und Bewusstsein verschiedenen Kategorien angehören, aber das gleiche gilt auch für Masse und Anziehungskraft, Stromfluss und Magnetfeld. Aus scholastischer Sicht müsste es deshalb unmöglich sein, dass Massen Anziehungskräfte und Stromflüsse Magnetfelder erzeugen. Bei diesen naturgesetzlichen „Übergängen“ (die übrigens alle eine Erklärungslücke enthalten) findet immer ein Kategoriensprung statt. Ein Scholastiker würde sagen: Das Gehirn kann kein Bewusstsein erzeugen, weil eine Erklärungslücke besteht. Die Alternative lautet: Das Gehirn erzeugt Bewusstsein, obwohl eine Erklärungslücke besteht.
2. Fakten
Kurzum, man sollte sich nicht beim Streit um Worte aufhalten. Es geht um eine grundsätzlichere Frage: ist das Gehirn für die Entstehung des Bewusstseins zuständig, oder genauer gesagt: sind bestimmte neuronale Abläufe im Gehirn notwendige und hinreichende Bedingungen für die Entstehung von Bewusstsein?
Was können die Neurowissenschaften beitragen? Unbestreitbar ist, dass sie eine völlig neue Untersuchungsmöglichkeit, einen „bahnbrechenden“ Zugangsweg zum Bewusstsein geschaffen haben (sozusagen eine Brücke ins Reich des Bewusstseins). Vor den Neurowissenschaften waren Bewusstseinsinhalte nicht objektivierbar, sie beruhten auf nicht überprüfbarer Introspektion oder subjektiven Berichten. Daher wurde die Beschäftigung mit Psyche, Geist und Bewusstsein lange als unwissenschaftlich diskreditiert. Mit den neurowissenschaftlichen Untersuchungstechniken konnte ein eindeutiger Zusammenhang hergestellt werden zwischen messbarer Hirnaktivität und mentalen Operationen bzw. Inhalten. Spektakuläre Befunde lieferten insbesondere bildgebende Verfahren. Natürlich muss man bei der Interpretation dieser Befunde vorsichtig sein, aber als Fakt bleibt eine eindeutige Korrelation zwischen neuronaler Aktivität und mentalen Erscheinungen. Diese Befunde werden ergänzt durch andere elektrophysiologischen Verfahren, und zusammen mit neurologisch-klinischen Befunden, Wissen über Hirnanatomie und Hirnphysiologie kristallisiert sich ein völlig konsistentes Bild über die Funktionsweise des Gehirns heraus.
Generell gilt: Gezielte Manipulation, Blockierung oder Läsion eines Teils der neuronalen Maschinerie zieht eine spezifische Störung oder Veränderung des phänomenalen Bewusstseins nach sich. Z.B. können durch Anlegung starker Magnetfelder an das Gehirn Funktionen /Empfindungen gezielt und reversibel an- und abgeschaltet werden. Das alles zeigt: Der Geist hat keine unabhängige Existenz, ohne funktionierende neuronale Maschinerie kein phänomenales Bewusstsein.
Den meines Erachtens eindrucksvollsten Beleg für den Zusammenhang zwischen spezifischer neuronaler Aktivität und Bewusstseinsentstehung liefern Experimente, die von S.Dehaene [1] durchgeführt wurden. Er ließ auf einem Bildschirm ganz kurz Symbole (Buchstaben oder Zahlen) aufblitzen. Wenn die Darbietungszeit über der Wahrnehmungsschwelle (ca. 40 Millisekunden) lag, konnte das Symbol erkannt werden (im Bewusstsein erschien dann die Vorstellung „3“ oder „A“). Wenn sie darunter lag, wurde das Symbol nicht erkannt – es bildete sich keine Vorstellung. Gleichzeitig wurde mittels EEG die Hirnaktivität über der Schädelkalotte gemessen. In den Fällen ohne bewusste Wahrnehmung konnte nur eine schwache, kurze, ca. 200msec dauernde Aktivität über dem Hinterhaupt (dem primären visuellen Kortex, der ersten kortikalen Verarbeitungsstufe) registriert werden. In den anderen Fällen breitete sich eine zusätzliche kräftige Erregungswelle (die sog. P3-Welle) über weiten Teilen des Kortex aus. Die benötigte Zeit beträgt etwa 500msec, genau diejenige Zeit, von der man weiß, dass sie zur bewussten Wahrnehmung eines Reizes benötigt wird. Es läßt sich also ein eindeutiger Zusammenhang feststellen: bewusste Wahrnehmung beim Auftreten einer P3-Welle – kein Bewusstsein dieser Inhalte bei ihrem Ausbleiben. (Natürlich handelt es sich hier nur um ein spezielles Beispiel für Bewusstsein, nämlich bewusste Wahrnehmung.)
Dieser konstant feststellbare Zusammenhang gibt ziemlich zwingend Anlass zur Hypothese, dass ein kausaler Zusammenhang besteht: Bewusstsein wird durch neuronale Aktivität erzeugt. (Natürlich könnte dieser Zusammenhang auch anders gedeutet werden: es könnte ein rein zufälliges Zusammentreffen sein. Oder dass es sich um göttlich synchronisierte, parallel ablaufende, aber voneinander unabhängige Vorgänge  im Sinne der Leibnizschen prästabilierten Harmonie handelt. Sobald eine Theorie „funktioniert“, d.h. befriedigende Erklärungen und Voraussagen ermöglich, entscheidet (!) man sich aber zur Anerkennung der Hypothese). Zu beachten ist, dass diese Hypothese nicht nur durch Empirie gestützt wird. Mit Empirie alleine kann nichts bewiesen werden. Dass die Sonne bisher täglich aufging, gibt nicht die Gewissheit, dass sie das auch morgen tun wird. Warum können wir trotzdem damit rechnen? Weil wir inzwischen über eine wissenschaftliche Kenntnis der „Himmelsmechanik“ verfügen, wir kennen die Bahnen von Sonne und Planeten, und nur wenn die Naturgesetze plötzlich außer Kraft gesetzt würden, ginge die Sonne morgen nicht auf. Und analog ist die Hypothese zur Bewusstseinsentstehung eingebettet in einen umfassenden, konsistenten Zusammenhang, und erst dadurch wird eine Hypothese zur Theorie.
Die Brücke ins Reich des Bewusstseins wird durch die neuronale Maschinerie geschlagen, sie hat die Fähigkeit, mittels materieller Vorgänge Bewusstsein zu erzeugen: ein emergenter Prozess, ein Ausbruch aus der rein materiellen Welt in die Sphäre des Geistes. Das ist genauso wunderbar und unbegreiflich wie der unbestrittene Umstand, dass eine biochemische Maschinerie – die Interaktion materieller Teilchen! – das Leben hervorbringt (erzeugt). Es ist nötig, das naiv-anschauliche Denken zu transzendieren, dann wird man darin auch keinen materialistischen Physikalismus mehr sehen.
Der Widerstand gegen das Aussprechen dieses Zusammenhangs schmilzt. So schreibt M. Gazzaniga, führender Neurowissenschaftler [2]: „Das Gehirn ermöglicht mit seinen physikalisch-chemischen Prozessen auf eine uns unbekannte Weise den menschlichen Geist. Dabei unterliegt es – wie alle Materie – den Naturgesetzen.“
Oder G. Roth [3]: dass … „es keinen Zweifel mehr daran geben kann, dass psychische Prozesse genauso wie Prozesse der Wahrnehmung, der Kognition und der Motorik aufs Engste mit der Aktivität von Nervenzellen in den unterschiedlichen Regionen des Gehirns verbunden sind.“
Manche Autoren, wie z.B. Dehaene, setzen den Zusammenhang stillschweigend voraus. Und das dürfte die Zukunftstendenz sein: es wird selbstverständlich werden, so wie die Massenanziehung. Und auch Jan schreibt: Unser Denken ist bedingt durch das Gehirn … Wir verstehen und durchschauen das zwar nicht …   Viel mehr wollte ich auch nicht sagen.
[1] S. Dehaene (2014): Denken
[2] M. Gazzaniga (2011): Die Ich-Illusion
[3] G. Roth (2014): Wie das Gehirn die Seele macht.

Eine Antwort auf „Helmut Beck: Die Brücke ins Reich des Bewusstseins“

  1. Lieber Helmut,
    deine Position wird in meinen Augen auch durch diesen Beitrag nicht schlüssiger, eher verfestigt sich der Eindruck, dass du unfreiwillig einem zu Descartes umgekehrten Leib-Seele-Dualismus aufsitzt: „Dieser konstant feststellbare Zusammenhang [zwischen Hirnaktivität und bewusster Wahrnehmung] gibt ziemlich zwingend Anlass zur Hypothese, dass ein kausaler Zusammenhang besteht: Bewusstsein wird durch neuronale Aktivität erzeugt“. Ich will dazu nur auf einen eines hinweisen: Keines der Hirnforscher-Zitate, die du am Schluss anführst, um deine Vorstellungen zu bestätigen, ist zu diesem Zweck geeignet! Statt deinem kausalen „Erzeuger“-Modell zu folgen, ziehen sich sowohl Gerhard Roth als auch Gazzaniga vernünftigerweise auf ein gegenüber der Kausalhypothese neutrales Konditional- und Korrelations-Modell zurück; und zwar tun sie das nicht irgendwo in der Tiefe ihrer Werke, sondern just in den beiden von dir zitierten Sätzen: Gazzaniga: „Das Gehirn ERMÖGLICHT … den Geist“; und Roth hat „keinen Zweifel mehr, dass psychische Prozesse genauso wie Prozesse der Wahrnehmung, der Kognition und der Motorik aufs Engste mit der Aktivität von Nervenzellen in den unterschiedlichen Regionen des Gehirns VERBUNDEN sind.“ Das entpricht genau dem, was ich in „Gehirn und Geschirr“ zu dieser Frage gesagt habe: notwendige bzw. wahrscheinlich notwendige Bedingungen eines Phänomens oder Ereignisses dürfen nicht mit kausalen Ursachen verwechselt werden. Was glaubst du denn, warum diese Forscher mit ihrer Wortwahl so skrupulös den Eindruck vermeiden, sie wollten einen Kausalzusammenhang zwischen Gehirn und Bewusstsein behaupten? Lieben Gruß, Jan

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