Die Lage in der Türkei nach dem Doppel-Putsch

Zur Lage in der Türkei nach dem Putsch der Militärs und dem Putsch des Tayyip Erdogan
Di, 19.7.2016 – Kontakt: wolfgang.ratzel@t-online.de

Meines Erachtens fanden am Wochenende in der Türkei zwei Putsche statt. Zuerst ein Putsch von Offizieren der mittleren Armee-Befehlsebene. Und dann ein Putsch des Tayyip Erdogan.
Ob und inwieweit diese zwei Putsche miteinander verschränkt sind, ist derzeit unklar. Es kann aber durchaus sein, dass Erdogan von der Putschplanung wusste, ihn laufen ließ, um einen ausweisbaren Vorwand für eh längst geplante Säuberungen zu gewinnen. 

Worte des Vorsitzenden Tayyip Erdogan
(zitiert in der Berliner Zeitung vom 18.7.2016, S.1)

„In allen Behörden des Staates wird
der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt.
Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert.
Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen.“

Erdogan macht allen, die Volk, Staat (und Menschheit) als Organismus betrachten, deutlich, wie schnell dieses Bild gebraucht werden kann, um die totalitäre Vision des reinen Volks-, Staats- und Menschheitskörpers zu inszenieren.

Wenn wir Individuen uns als einzelne Zellen eines Organismus begreifen, dann kann auch die Vorstellung greifen, dass diese einzelne Menschen-Zelle von (politischen) Viren befallen werden und zum Krebsgeschwür wuchern kann.
Diese verkrebste (Menschen-)Zelle muss dann natürlich ein „Chirurg“ aus dem gesunden Volks- und Staatskörper herausschneiden, um dessen Gesundheit vor Ansteckungen zu bewahren.
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Die Konfliktparteien vom 15./16. Juli 2016

Der Putsch des Militärs wurde von einem „Friedensrat der Türkei“ befehligt, der aus Teilen des Militärs und der Gendarmerie bestand.

Einige Opfer-Zahlen:
Zahl der Toten: Insgesamt 308 Tote, darunter 145 Zivilisten.
Zahl der getöteten Militärs der Putschisten: 104
Zahl der getöteten Polizisten und Militärs des Erdogan-Regimes: mindestens 60 plus 3

Einige Zahlen zum Putsch des Tayyip Erdogans:

Verhaftungen: 7.543, darunter 6.038 Militärangehörige
darunter 103 Generäle (=ein Drittel aller Generäle und Admiräle),
darunter Akin Öztürk, Mitglied des Obersten Militärrats und
Albay Ali Yaziki, Erdogans militärischer Chefberater
755 Richter und Staatsanwälte
100 Polizisten
650 Zivilisten
(und täglich werden es mehr)

Haftbefehle: 2.400 Haftbefehle gegen Richter und Staatsanwälte

Absetzungen: 30 von 81 Provinzgouverneure

Suspendierungen: 13.000 Staatsbedienstete – darunter
2745 Justizbeamte
5 Mitglieder des Hohen Rats der Richter + Staatsanwaltschaft
7.899 Polizisten
(und täglich werden es mehr)
Urlaubssperre und Urlaubsabbruch für alle Staatsbedienstete

Dazu kommen Lynchmorde, pogromartige Zustände und Angriffe, vor allem auch auf die Hizmet („= Dienst“)-Bewegung des türkischen, islamischen Predigers Fethullah Gülen, auch hier in Deutschland.

Zur Erinnerung: Es war nicht die erste Säuberung des Tayyip Erdogan:
– 2010 schaltete Erdogan im Ergenekon-Prozeß 275 höchstrangige Offiziere und damit fast die gesamte Armeespitze aus (2013 wurden alle Beschuldigten rehabilitiert).
– Nach der Korruptionsaffäre, in die Tayyip Erdogan persönlich verwickelt war, wurden 1.000 Staatsanwälte und 40.000 Polizeioffiziere suspendiert, versetzt oder verhaften. Alle Korruptionsverfahren wurden eingestellt.
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Ziele der Putschisten aus den Reihen des Militärs
Es scheint so, dass der Putsch von Teilen der mittleren Führungsebene der Armee ausging. Der Putsch der Militärs scheint auf den Schutz der westlich-geprägten kemalistisch-nationalistischen Verfassung gezielt zu haben.

Diese Verfassung entspricht im Großen und Ganzen den Idealen der amerikanisch-französischen Revolutionen des 18.Jhs.; z.B.:
Artikel 1. Der Staat Türkei ist eine Republik.
Artikel 2. Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.
Artikel 6. Die Souveränität gehört uneingeschränkt und unbedingt dem Volk.
Das Türkische Volk gebraucht seine Souveränität gemäß den von der Verfassung bestimmten Grundsätzen durch die zuständigen Organe.
Der Gebrauch der Souveränität darf auf keine Weise irgendeiner Person, einer Gruppe oder einer Klasse überlassen werden. Niemand und kein Organ darf eine Kompetenz des Staates ausüben, die nicht aus der Verfassung hervorgeht.

Es versteht sich von selbst, dass diese Verfassung ein Dorn in Erdogans Auge ist.

Ziele des Putsches des Tayyip Erdogan:
– Vollständige Säuberung des türkischen Staatsapparates, insbesondere des Justizwesens und der Armee, von Anhängern der kemalistisch-nationalistischen Opposition und der konkurrienden Gülem-Bewegung;
– Vollständige Säuberung der Medien und Kultureinrichtungen.

Zu diesen Zwecken bezichtigt Erdogan JEDE und JEDEN, der gegen seine Ziele opponiert, als Terroristen bzw. Terroristin.

Nach der gelungenen Gleichschaltung droht eine Volksabstimmung über das längst geplante autokratische Präsidialsystem, das Erdogan zum unumschränkten Herrscher der Türkei machen würde.

Das wäre aber auch nur ein weiterer Schritt zur Errichtung einer „Islamischen Republik“, vielleicht sogar eines Kalifats als Wiederkehr des Osmanischen Reichs.

Was tut die türkische Opposition?
Alle Oppositionsparteien und auch die Gülem-Bewegung verurteilen den Putsch der Militärs und werden bald sich selbst als Opfer des Erdogan-Putsches beklagen.

Erschütternd: Es gibt bislang keinen Widerstand seitens der Gezi-Park-Bewegung oder vermittelt durch die Sozialen Netzwerke. Hier schweigt still der See (was angesichts der Gewissheit, zum Terroristen gestempelt zu werden, verständlich ist). Wie würde ich, wie würden wir in solcher Gefahr reagieren?

Aufs Neue zeigt sich (wie auch in Ägypten oder dem Iran), dass die dem westlichen Lebensstil zugeneigte Jugend keine nennenswerte Widerstandskraft hervorbringen kann.

Alle Regierungen –von Obama über Merkel, den Iran bis Putin- verurteilen den Putsch der Militärs, nicht aber den Putsch Erdogans.
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Was können wir mit unseren schwachen Kräften tun?
Wir könnten in unseren Umgebungen darauf hinweisen,
– dass hier zwei Putsche stattfanden, von denen der Erdogan-Putsch das größere Übel ist;
– dass der Putsch des Militärs das kleinere Übel und vielleicht sogar im Sinne eines Widerstandsrechts analog Grundgesetz Artikel 20 (4) sogar legitimitiert war.

Wir könnten fordern,
– dass die nach Griechenland geflüchteteten Militärs NICHT an die Türkei ausgeliefert werden;
– dass Merkel/Steinmeier harte Sanktionen gegen das Erdogan-Regime fordern.

Jedenfalls reagieren die Finanzmärkte sehr nervös.
Und die türkische Wirtschaft steht und fällt mit der Investitionsbereitschaft ausländischen Kapitals. Das wird Erdogan und seine Anhängerschaft bald spüren.