Gehirn und Geschirr

Erweiterte Fassung des Textes vom April 2016 – von Jan Köttner

Mir wurde die Frage gestellt, was ich falsch fände an der Behauptung: ‚Das Gehirn erzeugt das Bewusstsein und alle mentalen Erscheinungen‘ wie Denken, Fühlen und Wollen. Ich wurde gefragt, warum ich diese Aussage trotz der erdrückenden empirischen Belege, die für sie sprächen, nicht akzeptieren könne. Hier meine Antwort:

1. Die Speicheldrüsen erzeugen Speichel, die Nieren erzeugen Urin, Zellen erzeugen Zellen, Stammzellen erzeugen Somazellen, Samen erzeugen Bäume, Bäume erzeugen Früchte, Bienen erzeugen durch Honigdrüsen Honig, Tiere erzeugen durch geschlechtliche Fortpflanzung Nachwuchs… – das ist der chemisch-biologische Sinn von (er)zeugen; es spricht auch nichts dagegen, diese Begrifflichkeit, die einst aus der vorwissenschaftlichen Sprache („Zeug“) entlehnt wurde, in noch andere Bereiche zu übertragen: Bauern als Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte, obwohl es ja eher die Saatgüter und Nutztiere sind, die erzeugen, während die Bauern genauer gesagt säen, ernten, melken und züchten; ebenso kann man von mir aus sagen, dass Arbeiter oder Roboter Autos erzeugen usw. Auch mit diesem Beispiel habe ich kein Problem: „Manche Zellen tun sich zu Blutgefäßen zusammen, andere, die Herzmuskelzellen, erzeugen Druck“.

2. Was alle diese Beispiele gemein haben: Agenten (chemische, biologische, personale) erzeugen aus sichtbaren, anfassbaren oder anders in ihrer Materialität nachweisbaren Ausgangsstoffen in ebensolcher Weise nachweisbare Produkte (Urin, Autos) oder Wirkungen (Bewegung, Druck). Wir befinden uns im Bereich der Kausalität. Mit ihr ist zugleich die Ordnung der Zeit im Spiel: Es liegt hier eine zeitliche Richtung vor: das eine kommt zuerst, das andere, spätere wird von dem ersten, früheren erzeugt, produziert. Deswegen ist es auch in allen diesen Fällen sinnvoll zu sagen, man könne die Produkte auf Agenten und Rohstoffe zurückführen, reduzieren.

3. Es gibt nun durchaus auch im Denken und Wollen die gleichen zeitlichen Zusammenhänge. Deshalb lässt sich sinnvoll sagen: Aristoteles‘ Begriff des eidos (‚Form‘) kann auf Platons idea zurückgeführt werden; aber der Sinn von ‚zurückführen‘ ist hier ein anderer als der chemisch-biologisch-physikalische. Denn a) weder idea noch eidos ist sichtbar, anfassbar oder sonstwie in irgendeiner Materialität nachweisbar; und dennoch konnte auch hier das frühere das spätere miterzeugen; b) trotz dieses Mangels an Materialität hat Platons eigene Ideenlehre in ihm den Wunsch erzeugt, sie zu verwirklichen, und zu dem Entschluss geführt, nach Syrakus umzusiedeln und dort eine von der Idee des Guten bestimmte Polis zu gründen.

4. Es handelt sich also um zwei Ebenen, die koexistieren: Auf beiden gelten je eigene Regeln des Erzeugens und Hervorbringens, und diese beiden Ebenen sind auch untereinander verbunden; aber nicht in der Weise, dass die Ebene der physikalischen Kausalität die andere des Denkens und Wollens erzeugt. Sondern Nervensystem und Gehirn sind lediglich nicht hinreichende, vielleicht sogar nicht einmal notwendige Bedingung des Wollens und Denkens. Das Gehirn gleicht in diesem Punkt einer Bratpfanne. Wir können ohne sie (oder ein vergleichbares Küchengerät) kein Spiegelei braten; viele Bedingungen sollten erfüllt sein, damit die Pfanne gut funktioniert: eine glatte, heiße, aber nicht zu heiße, waagrechte und durch einen Rand begrenzte Oberfläche, die keine schlimmen Läsionen (z.B. Einschusslöcher) erlitten hat. Notfalls tut es auch eine heiße Motorhaube, aber für wirklich gute Spiegeleier bietet eine geölte oder beschichtete Pfanne bessere Bedingungen für ein Spiegelei, wohingegen die denkbar schlechtesten Bedingungen vorlägen, wenn wir das rohe Ei einfach in die Glut werfen. Die verbesserte Hitzeleitfähigkeit durch einen Kupferkern im Pfannenboden entspricht besonderen Verhältnissen in den Nervenbahnen, die die Signalverarbeitungsgeschwindigkeit verbessern usw. So, wie ohne Pfanne kein Spiegelei gelingen kann, so können wir ohne Gehirn nicht denken. Das heißt aber keineswegs, dass die Pfanne das Spiegelei erzeugt hat. Auch das Huhn nicht, denn es hat nur das rohe Ei erzeugt; auch der Koch nicht, denn er hat lediglich dem Huhn das Ei weggenommen und in Pfanne gehauen; auch der Hunger war nicht Erzeuger, sondern lediglich Motiv des Kochs. Sie alle: Pfanne, Huhn, rohes Ei, Koch, Hunger sind, um Kants Ausdruck zu entlehnen, Bedingungen der Möglichkeit des Spiegeleis – allesamt notwendige, nicht hinreichende Bedingungen, von denen keine für sich den Anspruch erheben kann, „Erzeuger“ des Spiegeleis zu sein. Man wird vielleicht einwenden, Gehirn und Pfanne seien nicht vergleichbar, ich zöge hier einen bloßen Analogieschluss, einen metaphorischen Vergleich, was ohnehin unwissenschaftlich sei. Ich halte es aber für weder möglich noch wünschenswert, die Wissenschaft vom Analogieschluss zu ‚reinigen‘ – doch das ist ein anderes Thema. Stattdessen komme ich dem Einwand soweit entgegen, dass ich frage, worin denn der Vergleich zwischen Pfanne und Gehirn auf seine Grenze stoße, d.h. worin ein wesentlicher, interessanter Unterschied zwischen diesen beiden Seiten der Analogie liege? – Antwort: das Spiegelei ist ebenso greifbar, sichtbar oder auf andere Weise objektivierbar wie die meisten seiner Bedingungen; das hingegen, was Denken, Bewusstsein oder Wollen genannt wird, ist im deutlichen Gegensatz zum Gehirn weder greifbar, noch sichtbar, noch ohne weiteres objektivierbar. In dieser Besonderheit der Relation zwischen „Gehirn“ und „Denken/ Wollen“ liegt ja gerade der Grund, aus dem manche denken, dass es Denken und Wollen „gar nicht gibt“, oder auch, dass es Denken und Wollen zwar gibt, aber „eigentlich nicht anderes sind als ….“ bzw. „sich zurückführen lassen auf…“ – ja auf was? Auf das, was sie erzeugt hat? Hier wäre die Rede von einem Zirkelschluss mal ganz und gar angebracht.

Zu glauben, dass das Gehirn mehr als eine notwendige Bedingung des Denkens ist, nämlich dass es das Denken erzeugt, ist noch weniger sinnvoll als die Annahme, die Pfanne habe das Spiegelei erzeugt – denn in letzterem Falle handelt es sich wenigstens um Dinge ungefähr gleichen ontologischen Typs. Es bietet sich aber folgende alternative Betrachtung, in deren Rahmen Gehirn und Denken auf gleicher Ebene ins Verhältnis gesetzt werden können – die nominalistische Betrachtung: „Gehirn“ und „Denken“ sind in erster Linie Begriffe. Der „Inhalt“ dieser Begriffe sind keine Dinge, sondern die Regeln des Gebrauchs dieser Begriffe. Solche Regeln werden teils aus Erfahrung abgezogen, teils erdacht. Zu den Regeln von „Gehirn“ gehört z.B. ‚kann man anfassen‘, ‚ist verletzlich‘ oder ‚ist nötig zum denken‘; zu den Regeln von „Denken“ gehört: ‚kann man nicht anfassen‘, ‚ist für unser Leben unverzichtbar‘, ‚braucht so etwas wie ein Gehirn‘. Wer solche Regeln ignorierte, bekäme Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung oder auch in seiner fachspezifischen Tätigkeit. Trotz der einigermaßen beständigen, sich meist nur langsam verändernden Regelwerke, nach denen wir diese Begriffe verwenden, trotz aller Erfahrung, Überlegung, Berechung und Einbildungskraft, auf denen sie errichtet wurden, geraten wir mit ihnen in eine erstaunliche Ungereimtheit (Aporie), der wir offenbar nicht entkommen können: Unser Denken ist bedingt durch das Gehirn, den Körper, die Welt und zugleich ist die gesamte Erscheinungswelt – einschließlich der darin vorkommenden Gehirne – bedingt durch die Art, wie wir sie wahrnehmen, erfahren und denken. Wir verstehen und durchschauen das zwar nicht, aber in dieser Lage ist zumindest ein Gleichgewicht, fast möchte man sagen: eine Gerechtigkeit zu erkennen.

Man könnte sich also darauf einigen, dass „Gehirn“ und „Denken“ in einer nach unserer Erfahrung unlöslichen Beziehung stehen, dass sich mit einem lädierten oder in seiner Entwicklung beeinträchtigten Hirn nicht gut denken lässt, dass es so und so repariert und gesund erhalten werden kann, dass eine bestimmte Läsion die Empathie- und Schuldfähigkeit beeinträchtigt usw. Jedoch mit aller Macht den Gedanken durchdrücken zu wollen, dass das Gehirn „das gesamte Verhalten, alle mentalen Erscheinungen erzeugt“, macht jede Verständigung unmöglich. Eine solche Haltung wirft vor allem die Frage auf: was ist das für ein Denken, das so sehr will, dass seine Erzeugungs-These „akzeptiert“ wird? Darauf habe ich keine fertige Antwort. Was ich aber in dieser These mit einiger Sicherheit erkennen kann, ist der alte Kategorienfehler, der synchrone Bedingungen mit diachronen Ursachen verwechselt, sowie den physikalistischen Fehlschluss, der die empirisch-materielle Erscheinungswelt für die einzig originäre Wirklichkeit hält und meint, alles auf sie zurückführen zu können.

August 2016

4 Antworten auf „Gehirn und Geschirr“

  1. Das geht ja recht unappetitlich zu! Der Geist erzeugt wie Speichel und Urin? Ein Spiegelei in der Gehirnpfanne, die hoffentlich nicht auch noch einen Kopfschuss erlitten hat. Voller rhetorischer Einsatz. Es ist nicht der Gebrauch, sondern die Wahl der Metaphern. Die Frage liegt nahe (Zitat:) „Was ist das für ein Denken, das so sehr will, dass die Erzeugungs-These nicht „akzeptiert“ wird?“ Es ist eine „Eigenschaft des Geistigen [,…], dass wir Menschen körperliche Wesen sind, weil wir endliche Ich-Subjekte sind“ (Tetens, Gott denken, S. 31). Ich frage jetzt nicht, ob der Geist die Materie erzeugt.

  2. Thomas unterstellt Jan uneinsichtige Rechthaberei indem er auf Schopenhauers Eristische Dialektik verweist. Unter dem Titel „Die Kunst Recht zu behalten“ hat Schopenhauer die „Kunstgriffe“ unlauteren Rechtbehaltens zusammengefasst. Thomas wendet mit seinem Kommentar den „Kunstgriff 29“ an:
    „Merkt man, daß man geschlagen wird, so macht man eine Diversion: d.h. fängt mit einem Male von etwas anderm an, als gehörte es zur Sache und wäre ein Argument gegen den Gegner. Dies geschieht mit einiger Bescheidenheit, wenn die Diversion doch noch überhaupt das thema quaestionis betrifft; unverschämt, wenn es bloß den Gegner angeht und gar nicht von der Sache redet.“

    1. Wer hat hier wen geschlagen? Welchen Kunstgriff hat Jan möglicherweise angewandt? Ich argumentiere ja nicht, sondern weise nur auf etwas hin. Wir befinden uns hier nicht in einem Streitgespräch, sondern auf einer Website auf der man auf schriftliche Beiträge schriftlich Bezug nimmt. Mir geht es in Bezug auf den Inhalt nicht darum, zu irgendetwas Recht zu behalten. Ich will nur auf eine mögliche Intention des Autors auf der Metaebene hinweisen und noch nicht einmal unterstellen, dass er dies bewusst gemacht hat. Die hintergründige Konnotation des Urin erzeugens durch Jan bezieht sich auf die vorausgegangenen Ausführungen Helmuts in seinen Vorträgen bzw. in einem privaten Gespräch beider. Meines Erachtens wurde bezüglich Helmuts Ausführungen nicht nur durch Jan einiges vollständig missverstanden. Dies indirekt mit der Unterstellung zu beantworten, Helmut pinkele auf grundlegende Aussagen, halte ich in der Sache insgesamt in keiner Weise hilfreich, sondern eher störend bis verstörend. Die Kunstgriffe von Schopenhauers ‚Eristischer Dialektik‘ genauer zu studieren und diese bei den Debatten im Autonomen Seminar öfter mal im Hinterkopf zu behalten kann bei vielen Gesprächsabläufen immer wieder hilfreich sein. Bevor ich diesen Text kannte, war mir einiges in manchen Debatten nicht so verständlich wie es hier und da jetzt für mich ist. Einer der wesentlichen Vorteile des Autonomen Seminars, man lernt nebenbei noch etwas.

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